Die Idee klingt verlockend: Beide Parteien verlassen den Verhandlungstisch als Gewinner, keiner fühlt sich benachteiligt, alle sind zufrieden. Doch die Frage, die sich jeder stellen sollte, lautet: Ist das wirklich realistisch? Und noch wichtiger: Ist es strategisch klug?
Basierend auf meiner mittlerweile über dreißigjährigen Erfahrung als professioneller Verhandler in Wirtschaft und Sport kann ich Ihnen eines versichern: Der Gedanke des Win-Win-Ansatzes ist mehr Mythos als Realität. Er ist Wunschdenken, das in der Praxis oft nicht funktioniert. Und was noch gravierender ist: Wer sich auf Win-Win fokussiert, schwächt sich selbst!
Der wahre Preis von Win-Win: Einschränkung der eigenen Ziele und Erfolg
Fangen wir mal bei den Grundlagen an. Um den Win-Win-Gedanken verantwortungsbewusst umzusetzen, müssten Sie sich bei der Definition jedes Ziels, das Sie für sich als erstrebenswert erachten und definieren, unmittelbar die Frage stellen: „Hat mein Gegner, wenn ich mein Ziel durchsetze, auch einen positiven Effekt dadurch?“ Wenn die Antwort „Nein“ ist, müssten Sie theoretisch sofort das Ziel überdenken oder sogar fallen lassen. Ansonsten würden Sie nicht nach dem Win-Win-Prinzip handeln. Diese absurde Vorgehensweise hätte nur zur Folge, dass Sie sich selbst signifikant einschränken, bevor die Verhandlung überhaupt richtig begonnen hat! Sie würden sich von Anfang an Grenzen setzen, anstatt das Maximum für sich selbst und Ihr eigenes Team herauszuholen. Das wäre absurd! So handelt kein echter Verhandlungsprofi.
Win-Win ist dilettantisch und naiv
Wenn wir also realistisch sind, ist die Fixierung auf Win-Win strategisch dilettantisch. Verhandlungen, ob im Profifußball oder in der Wirtschaft, sind keine Kuschelstunden. Sie sind knallharte Auseinandersetzungen um Macht, Einfluss und Ressourcen. Ihr erstes Ziel muss sein, das Optimum für Sie zu erreichen. Punkt.
Erst Ziele erreichen, dann (vielleicht) Zugeständnisse machen
Jetzt werden einige natürlich einwenden: „Aber was ist mit langfristigen Beziehungen? Ist es nicht wichtig, dass beide Seiten zufrieden sind, um zukünftige Verhandlungen positiv zu beeinflussen?“ Klar, das kann eine Rolle spielen. Aber das geschieht erst am Ende der Verhandlung, nicht am Anfang.
Zuerst müssen Sie Ihre eigenen Ziele erreichen. Erst wenn Sie sicher sind, dass Sie das Maximum für sich herausgeholt haben, können Sie überlegen, ob es Zugeständnisse gibt, die für Sie irrelevant sind, aber der anderen Seite das Gefühl geben, ebenfalls etwas erreicht zu haben. Diese Art von „Zugeständnissen“ sind taktische Geschenke, die keine echten Nachteile für Sie mit sich bringen. Sie geben der Gegenseite etwas, das Ihnen nichts kostet, und die Gegenseite denkt, sie hätte auch gewonnen. Das ist der einzige Moment, wo Win-Win eine Rolle spielen kann – wenn Sie bereits gewonnen haben!
Fünf Tipps für den richtigen Umgang mit der „Win-Win-Illusion“:
- Vermeiden Sie den „Harmonieverhandler“-Ansatz: Gehen Sie nicht mit der Einstellung in die Verhandlung, dass Sie die Interessen der anderen Seite von Beginn an schützen müssen.
- Fokussieren Sie sich auf Ihre Vorteile: Definieren Sie vor jeder Verhandlung nur Ziele mit dem klaren Fokus auf Ihre eigenen Interessen und Vorteile. Ignorieren Sie dabei den sinnlosen Win-Win-Gedanken.
- Flexibilität nur an unwichtigen Punkten: Stellen Sie sicher, dass Ihre Kernziele stets im Vordergrund stehen. Bieten Sie Flexibilität und kleine Zugeständnisse nur dort an, wo sie keine entscheidenden Nachteile für Sie mit sich bringen.
- Keine moralischen Verpflichtungen auferlegen: Verhandlungen sind kein moralisches Spielfeld. Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, die andere Seite „zufrieden“ zu stellen, wenn dies Ihre eigenen Ziele gefährdet.
- Seien Sie bereit, „Nein“ zu sagen: Wenn eine Verhandlung zu sehr in Richtung eines „Win-Win“ abdriftet und dabei Ihre eigenen Interessen gefährdet, sollten Sie bereit sein, die Verhandlungen abzubrechen oder sogar zu beenden.
Verhandlungen sind kein Ort für Idealismus. Wer immer nur darauf setzt, dass alle gewinnen, verliert am Ende selbst.
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